Berliner Zeitung: Kai Wegners Problem mit dem Volkswillen
Die repräsentative Demokratie hat ein Problem mit der direkten Demokratie. Ein Stück mit diesem Inhalt wird dieser Tage wieder in Berlin aufgeführt. Wie es aussieht, werden in dieser Stadt künftig zwei Politiker regieren, die ein Problem mit dem Mehrheitswillen der Berliner haben, wenn er ihnen nicht gefällt: Franziska Giffey und Kai Wegner. Die noch regierende Berliner Bürgermeisterin Giffey überraschte im Januar mit der Aussage, sie könne es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, sich für Enteignungen einzusetzen, es geht dabei um den Volksentscheid „Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Und Kai Wegner bringt die Randbebauung des Tempelhofer Felds wieder auf den Tisch.
Doch in der Berliner Landesverfassung sind nun mal Instrumente vorgesehen, mit denen das Volk direkten Einfluss auf die Regierenden nehmen kann, also Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid. Die Hürden sind ziemlich hoch, ein Volksentscheid hat nur Erfolg, wenn ein Viertel aller Wahlberechtigten mitmacht und dann die Mehrheit zustimmt.
Ein Volksentscheid in Berlin, das ist aber nicht etwa nur ein Vorschlag, den das Volk den Politikern macht, es ist keine Anregung, die die Landesregierung einfach ignorieren kann. Ein Volksentscheid hat mindestens politisch verbindliche Wirkung, nicht immer rechtliche. So konnte der Berliner Senat über den erfolgreichen Volksentscheid, der sich im Jahr 2017 dafür aussprach, den Flughafen Tegel offen zu lassen, einfach hinweggehen. Der Regierende hieß damals Michael Müller von der SPD. Allerdings hatte die Politik schon vor dem Entscheid die Inbetriebnahme des BER mit der Entwidmung von Tegel verknüpft. Ein Automatismus. Hätte man wahrscheinlich ändern können, tat man aber nicht.
Dass es in einer Demokratie schwierig ist, einen Volksentscheid zu ignorieren, weiß auch der Mann, der wohl künftig Berlin regieren wird: Kai Wegner. Deshalb sein Vorschlag, das Volk zu befragen, ob es nicht inzwischen doch eine Randbebauung des Tempelhofer Felds befürwortet, nachdem es diese 2014 mit großer Mehrheit abgelehnt hat. Anders als im Fall Tegel stand damals ein Gesetz zur Abstimmung und wurde angenommen.
Das Problem ist, dass die Landesverfassung keine Volksbefragung vorsieht. Und dann ist der Begriff selbst ein ziemlicher Mogelbegriff. Das Volk befragen, das klingt doch eigentlich gut, oder? Aber während Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid auch wirklich vom Volk in Gang gesetzt werden, weil das Interesse an einem Thema so groß ist, dass genügend Energie freigesetzt wird, erst mal mindestens 20.000 Unterschriften für ein Volksbegehren zu sammeln, gilt das nicht für die Volksbefragung. Die käme von oben, genau wie das Thema. Und wie es dann mit der Verbindlichkeit wäre, ist unklar.
Kai Wegner hat recht, der Druck auf den Wohnungsmarkt ist gewachsen
Sicher gilt auch ein Volksentscheid nicht bis in alle Ewigkeit. Und Kai Wegner hat wahrscheinlich recht, wenn er sagt, dass der Druck auf den Wohnungsmarkt in Berlin seit 2014 noch gewachsen ist. Bestimmt haben Berliner, die vor nicht mal zehn Jahren gegen die Bebauung waren, ihre Meinung inzwischen geändert, auch wenn jeder weiß, dass die paar Häuser am Rand des Tempelhofer Felds die Wohnungsnot in Berlin auch nicht entscheidend lindern werden.
Doch es liegen auch die Pandemiejahre hinter Berlin, eine klaustrophobische Zeit, in der die Liebe der Stadtbewohner zu diesem großen freien Feld sehr gewachsen ist. Dort heiterten Bands die niedergedrückte Stimmung auf, dort konnte man Menschen treffen, und die Welt war wieder groß und fast unbegrenzt. Hinterm Horizont geht’s weiter, so das Versprechen dieses Ortes.
Man kann direkte Demokratie kritisch sehen, etwa weil sie sozial selektiv ist, es ist ja eher die Mittelschicht, die bei den Abstimmungen mitmacht. Aber das Vertrauen in Entscheidungen, die über Instrumente direkter Demokratie getroffen wurden, ist groß; größer jedenfalls als das in solche, die von oben erlassen werden: wie die Einbahnstraßenregelung in der Charlottenstraße oder die Komplettsperrung der Friedrichstraße. Das Foto, mit dem die Senatsverwaltung für Inneres ihre Erläuterungen zum Thema Volksentscheid schmückt, zeigt gelbe Pfeile mit der Aufschrift „Bürgerbeteiligung“ oder „Politikverdrossenheit“. Letzterer weist in die entgegengesetzte Richtung. Es ist also klar, was sich die Politik vom Instrumentarium der direkten Demokratie erhofft: Legitimitätsgewinn.
Wegner sollte keine Vorschläge machen, für die es noch nicht mal eine rechtliche Basis gibt, wie die von ihm ins Spiel gebrachte Volksabstimmung. Nach der Rechtslage in Berlin muss Wegner selber erst mal 20.000 Unterschriften sammeln, wenn er das Volk wirklich zu Wort kommen lassen will. Eigentlich gar keine schlechte Übung für einen künftigen Regierenden Bürgermeister.
Susanne Lenz, Berliner Zeitung 06.03.2023
Aktuelles
Dialogverfahren bestätigt Volksentscheid
Was wir schon lange sagen, hat Mini-Berlin belegt: Die Zustimmung für das Feld ist inzwischen höher als im Volksentscheid. Die Menschen in Berlin lieben das Feld einfach. und so hat sich in der finalen Arbeitsphase am Sonntag jede Gruppe dafür entschieden, eine Entwicklungsperspektive ohne Bebauung vorzuschlagen. was für ein tolles Ergebnis. Nicht eine einzige Perspektive sieht vor das Feld zu bebauen. 100% der Perspektiven für 100% Tempelhofer Feld.
Bitte "Weiterlesen" anklicken, um unsere Pressemitteilung zu lesen.
Vortrag von 100% THF beim sogenannten Dialogprozess
Der Vortrag von Mareike Witt und Anky Brandt von 100% THF beim sogenannten Dialogprozess.
Der Link führt zu einem Video auf thf-dialog.berlin.de/initiative-100-prozent.Das Video ist lizenziert unter CC BY-ND 4.0 und wurde von der Berliner Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen veröffentlicht, die auch das Copyright besitzt,
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Auftakt der Pseudo-Beteiligung zur Bebauung des Tempelhofer Feldes
Unser Statement zum Auftakt der Pseudo-Beteiligung zur Bebauung des Tempelhofer Feldes gibt es hier.
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Presseeinladung vors AGH, Mi 11.30 Uhr - ThF-G vorm Aus?
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Pressemitteilung: Menschen ins Gebäude - Bäume aufs Feld!
100% Tempelhofer Feld und das Berliner Bündnis Nachhaltige Stadtentwicklung haben am 6.1.2023 ein klares Zeichen zum Jahresauftakt gesetzt:
Berliner Grünflächeninitiativen kamen auf das Feld um deutlich zu machen, im Jahr 2024 werden etliche Grünflächen unter der SPD-CDU-Regierung vor ähnlichen Problemen stehen. Die Aktion von 100% Tempelhofer Feld setzt mit einer Installation von Weihnachtsbäumen ins Bild, was jetzt anstehen muss: "Menschen ins Gebäude - Bäume auf das Feld!" Das Tempelhofer Feld muss endlich im Sinne des Volksentscheids weiterentwickelt werden, also: Bäume aufs Feld! Und Menschen ins Flughafengebäude!
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Pressemitteilung: Mit der Brechstange aufs Feld!
Heute wird im Abgeordnetenhaus über den Haushalt debattiert. Eine der wichtigsten Debatten, denn sie bestimmt, was in den nächsten 2 Jahren möglich sein wird oder nicht zu Stande kommt. Für diese Debatte braucht es Zeit und deshalb kommen normalerweise andere wichtige Themen gar nicht erst auf die Tagesordnung. Es sei denn, man möchte vielleicht gar nicht, dass über sie diskutiert wird. So wird es morgen sein: Die CDU/SPD-Fraktion hat die hoch umstrittenen Themen wie ThFG-Änderung, ASOG und Bauordnung auf diesen Tag gelegt. Die Sitzung ist bis 1:00 nachts angesetzt, Beginn 09:00.
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Pressemitteilung: Senatsplan für Änderung des Thf-G wird integrative Projekte zerstören!
Als sich die CDU für ihre Klausurtagung auf den Weg nach Warschau machte, blieb wohl manches auf der Strecke, wie z.B. die detaillierten Kenntnisse unserer Verfassung. Wie sonst lässt sich erklären, dass sie schon wieder den Vorschlag einer Volksabstimmung stolz verkündet? Volksabstimmungen von oben sind besonders in autoritären Staaten beliebt, vielleicht auch in Großbritannien, aber nicht in Berlin. Vor so viel Willkür schützt uns nämlich genau diese unsere Verfassung.